Ich reite auf meinem Einhorn ins Tal. Wie der Wind peitschen wir über eine Brücke und auf einem schmalen Weg einer Schlucht entgegen. Zwei Felsmassive türmen sich vor uns auf. An der engsten Stelle, dort wo sie sich beinahe berühren, glitzert ein sonderbarer Rundbau in der Sonne. Unser Weg führt genau darauf zu. Das kugelrunde Gebäude mit hübschen Goldverzierungen und schimmernder weißer Außenhaut klemmt wie eine eingequetschte Perle zwischen den Felswänden. Unser Weg führt auf den dunklen und schmalen Eingang zu.
Es gibt auch ein paar weitere Öffnungen, die ebenso dunkel und mysteriös anmuten. Ich steige von meinem Einhorn ab und aufgeschreckte Fledermäuse fliegen aus den Öffnungen der hübschen Kugel gen Himmel. Respektvoll frage ich – mit Blick zum Eingang -, ob ich eintreten darf und eine körperlose Stimme aus dem Inneren lädt mich dazu ein. Furchtlos trete ich in den finsteren Innenraum ein. Myriaden von Gesichtern wenden sich mir zu und beobachten mich. Ich grüße sie und frage, wer sie seien. „Wir sind deine Schatten“ dringt es an mein Ohr. Mutig trete ich in die Mitte, nehme ein Stück Licht aus dem Leuchten meines Herzens heraus und erhelle damit eine Laterne, die auf einem Tischlein vor mir steht. Nun kann ich im schummrigen Licht die Umrisse unzähliger, grauer Schatten erahnen. Eine Frau, ähnlich wie eine Mumie mit Mullbinden bandagiert, tritt an mich heran. Ich segne sie und berühre sie mit meinem Herzenslicht. Die Bandagen fallen von ihrem grauen Leib ab und sie blickt mich freudestrahlend an, wir vergeben uns.
Nun erkenne ich auch ein riesiges Krokodil, ein schmutziges, kleines Kind, einen groß gewachsenen Zombie-Mann mit gefährlichen Pranken und viele weitere Schatten, die mich schon solange begleiten. Ich berühre einige von ihnen, schenke ihnen meine Liebe und Beachtung. Ich erkenne meine Ängste und das Leid, das ich mit mir trug. Jetzt stehen die Schatten vor mir und sie wirken nicht mehr so bedrohlich, wie sie einst in vergangenen Tagen auf mich wirkten. Vielmehr sehen sich mich ruhig und erwartungsvoll an. Keinerlei Aggression steckt in ihrem Auftreten, nur der Wunsch, gesehen zu werden.
Ich spreche laut aus: „Ich bin mutig und ich stelle mich meinen Schatten. Ihr seid ein Geschenk. Ich danke euch.“ Gleichzeitig spüre ich großes Mitgefühl in mir aufflammen und ich möchte nicht, dass meine, nun liebgewonnen Schatten in dieser Dunkelheit leben müssen. Ein Raunen geht durch die Menge und ich kann sie hören: „Es ist allein deine Entscheidung.“ Und ich weiß, was sie damit meinen. Es ist meine Entscheidung und ich habe mich bereits entschieden. Ich lasse meine Liebe, mein Licht, noch mehr erstrahlen und bemerke den Zuwachs an goldener Leuchtkraft. Die Schatten wirken nun nicht mehr so grau. Goldener Glanz legt sich auf ihre Umrisse und sie sehen immer weniger bedrohlich aus. Nun sprenge ich mit meiner puren Gedankenkraft Löcher in die Außenschale dieser Behausung und immer mehr Licht erstrahlt im Innenraum. Ich spüre, dass ich noch einen Schritt weiter gehen kann. Und plötzlich bersten die Wände und nur noch das Gerüst der sonderbaren Perle bleibt an Ort und Stelle stehen. Immer noch zwischen den beiden Felsen eingequetscht. Die Sonne scheint liebevoll auf uns herab und das Tal liegt friedlich da. Ich verspreche meinen Schatten, sie nicht mehr einzusperren oder verstecken zu wollen. Ich möchte sie nun sehen. Sie dürfen ans Licht kommen, ich lade sie herzlich dazu ein. Denn ich brauche keine Angst mehr vor ihnen zu haben.
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